May 2011

Die Pest oder Menschen im Belagerungszustand

Theater Aachen (D) 2011

Regie: Hans-Werner Kroesinger

Bühne, Kostüme, Video: Rob Moonen

Program booklet

 

Aachener Zeitung 08.05 2011

 

AACHEN. „Dokumentarisches Theater”, das klingt reichlich verkopft. Doch

Hans-Werner Kroesinger, einer der bedeutendsten Vertreter dieser Spielart

im deutschsprachigen Raum, hat schon mehrfach in Aachen bewiesen, dass

dies nicht so sein muss.

VON GRIT SCHORN

 

Jetzt hat er sich Albert Camus Roman „Die Pest” angenommen und mit einem

anderen Camus-Titel - „Belagerungszustand” - verbunden.

Das minimalistisches Bühnenbild von Rob Moonen (auch Video und Kostüme)

strahlt große Kälte aus. Stählerne Gitter, weißliche Särge - mehr braucht es nicht, um

Stillstand und Tod auf die Bühne zu bringen. Im Hintergrund das graue Meer von

Oran, der Handels- und Hafenstadt in Algerien.

Die sechs Akteure stehen wie erstarrt. Sie werden bedroht von einer Krankheit, die

sie Pest nennen. Nichts kann die Infektion aufhalten, die Stadt wird abgeriegelt.

Immer mehr Menschen sterben, alles gesellschaftliche Leben erlischt. Gefangen im

Ausnahmezustand - man traut fast niemandem mehr, jeder könnte die schreckliche

Krankheit in sich tragen.

Die sechs Schauspieler wechseln ständig in ihren Sprechrollen. Ein bewusster

Kunstgriff Kroesingers, der nur anfangs für Verwirrung sorgt. Julia Brettschneider

kratzt mit dem Fingernagel über einen Sargdeckel, eine minuziöse

„Berichterstattung” bricht sich Bahn.

Philipp Manuel Rothkopf gibt dem tapferen Arzt Rieux starkes Profil, eine Figur wie

Sisyphos, den Camus ja einen glücklichen Mann nannte, weil er nie aufgab. Emilia

Rosa de Fries und Elisabeth Ebeling kämpfen mutig dagegen an, dass in Camus

Roman Frauen nur als Abwesende vorkommen.

Rainer Krause imponiert besonders als fanatischer Jesuitenpater Paneloux, der die

Pest als ein „Gottesgericht” für die Sünder betrachtet. Der sich aber später den

Sanitätstrupps anschließt und ebenfalls von der Pest dahingerafft wird. Aber auch

als Außenseiter Tarrou, ein „Heiliger ohne Gott”, geht seine Intensität unter die Haut.

Robert Seiler überzeugt etwa als Journalist Rambert, der die verpestete Stadt

unbedingt verlassen will, um zu seiner geliebten Frau in Paris zu gelangen.

Camus stellt die großen Fragen der Menschheit, Kroesinger verwandelt sie in

fesselnde Theatersprache. Kann es in einer Situation wie dieser noch Menschlichkeit

und Solidarität geben?

Überdeutlich wird der Bezug auf das von den Nazis belagerte Frankreich, die

tödliche Beulenpest tritt als Gewalt, Unrecht und Tyrannei hervor, die man mit allen

Mitteln bekämpfen muss.

Ein „strapazierendes” Stück im besten Sinne, das vom Publikum herzlichen Beifall 

erhielt.